Wie kommt man vorwärts, wenn ständig die Handbremse fest angezogen ist, und man ein quengelndes, plärrendes Kind dabei hat?

Die Europäische Union in ihrer jetzigen Form funktioniert nicht mehr. Wenigstens hat das auch die EU eingesehen. Deswegen gibts jetzt eine Reform (die ja nicht mehr „Verfassung“ heißen darf).
Auch wenn diese Reform in vielen wichtigen Punkten sehr verwässert ist, ist sie wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung. Auch wenn einige ihren Extra-Lolli brauchten.

Fangen wir mit dem plärrenden „ich halt solang meine Luft an bis ich krieg was ich will“-Kleinkind an. Wenn man in einem Team mitspielen und zusammenarbeiten will, dann muss man auch bereit sein, nicht immer vollständig seinen Egoismus durchzusetzen. Mal ganz davon abgesehen, dass das bevölkerungsabhängige Abstimmungsverfahren tatsächlich ungerecht ist (weil dann Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien im Zusammenspiel einfach mal alles druchdrücken können, was sie wollen), gibt es ja wohl kein dämlicheres Argument als „wir müssen die Kriegstoten mitzählen und auf heute hochrechen“. Ja, genau. Mal ganz davon abgesehen, dass man das dann für sämtliche anderen Staaten auch machen (und vielleicht mehr als einen Krieg einberechnen) müsste, und die Grenzen der meisten Länder vor dem Krieg ziemlich anders aussahen, ist das einfach nur unglaublich dämlich. Ich bin schon bereit zu sagen (allerdings nicht wirklich zu meinen), dass jemand, der so einen Driss ablässt, am besten gar kein Stimmrecht mehr haben sollte.
Jetzt wird das System der „doppelten Mehrheit“ eingeführt, bei dem für Entscheidungen midnestens 55% der Staaten zustimmen müssen, und diese mindestens 65% der Bevölkerung der EU repräsentieren müssen. Halte ich persönlich für gut und fair. Für sehr gut vor allem, weil in den Bereichen, wo das gilt (leider nicht überall) endlich das Veto-Recht wegfällt, das bei 6 Staaten sinnvoll und nötig ist (vielleicht auch noch bei 9, wenn nciht grad, wie geschehen, ein Blockierer dazu kommt), aber bei heute 27 Mitgliedstaaten nur bremst. Nur musste das kleine Kind das Zugeständnis kriegen, dass das System erst 2014 und nicht 2009 eingeführt wird, und sie sich dann noch drei weitere Jahre auf das alte System berufen können. Sprich: es kommt erst wirklich in zehn Jahren, weil davor jeder (vor allem das Kind und die Handbremse) sich auf das alte System berufen wird, wenn ihm was nicht passt (und wenn es gepasst hätte, wäre es auch nach altem System durchgekommen). Also noch weitere zehn Jahre (Teil-)Stagnation in vielen Bereichen. Danke. Vielen Dank.

Zur Handbremse: Ich mag mir gar nicht ausmalen, wo die EU heute schon wäre, wenn -nennen wir es beim Namen- Großbritannien nicht dabei wäre. Das Einzige, was die Briten offensichtlich von der EU wollen, ist eine Freihandelszone. Alles andere, was nunmal zu einer Zusammenarbeit und einem Verbund gehört, wird strikt abgelehnt. Und dazu noch Extrawürste rausgeschlagen. Angefangen beim „Britenrabatt“ bis zur Blockade der gemeinsamen Aussenpolitik, was darin gipfelt, dass der quasi-Außenminister jetzt nicht „Außenminister“ sondern „Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“ heißen wird.
Und gemeinsame Grundlagen, die die einzelnen Länder und die Zusammenarbeit in Europa seit Jahrzehnten deutlich weiterbringen könnte, werden schon immer blockiert. Sozialcharta, Grundrechte-Charta, was auch immer.
Daraus resultiert jetzt endlich etwas, das ich als „Dann-halt-ohne-euch-Regelung“ bezeichnen würde. Die EU nennt es „Das Europa der zwei Geschwindigkeiten“. Sie erlaubt es, dass Staaten, die eine gemeinsame Regelung (wie z.B. Grundrechte-Charta) einführen wollen, das auch ohne die anderen Staaten tun können, wenn nach vier Monaten noch keine Einigung erzielt werden konnte. Dann können wenigstens diese Staaten aus der Stagnation herauskommen. Daher finde ich den Begriff der „zwei Geschwindigkeiten“ sehr schön gewählt. Sagt soviel wie „dann sieh halt zu, wie du vorwärts kommst“, oder -noch stärker- „wenigstens müssen wir nicht mit dir zusammen stagnieren“. Im Grunde das Gleiche, was mit der Währungsunion schon begonnen wurde.
[Randbemerkung: beim Spiegel wird das eingeleitet mit „Staaten wie Großbritannien können aus EU-Beschlüssen […] aussteigen. […]“. Ich weiß nicht, ob diese Aussage absichtlich so subtil eingebaut wurde. Für mich sagt es aber entweder „Blockiererstaaten“ oder „Fall nochmal jemand beitreten sollte, der eigenlich nicht dabei sein will“. Sehr schön.]
Überhaupt wurden fast sämtliche Regelungen „mit Ausnahme von Großbritannien“ getroffen. Ich weiß echt nicht, warum die sich zur EU zählen.

Mein Fazit:
Die Reform ist zwar nicht das gelbe vom Ei, aber ein sehr wichtiger Fortschritt. Vor allem, weil die Staaten, die wirklich Europa sein wollen, das nun auch tun können, auch ohne die Rosinenpicker.
Es ist noch ein langer Weg zu gehen, aber wenigstens gehen wir wieder.