So kurz vor der Wahl möchte ich mich noch einmal einer Geschichte voller Missverständnisse widmen: der Erststimme.
 
Man hört ständig irgendwo, dass die Zweitstimme die wirklich wichtige ist. Daher geben viele Menschen, die sich nicht ganz für eine Partei entscheiden können (oder „taktische Wähler“, die eine bestimmte Koalition wollen) ihre Erststimme der anderen Partei, „damit die auch was abbekommen“. Dabei hat die Erststimme so gut wie keinen Einfluss auf das Mehrheitsverhältnis im Bundestag. Das geschieht lediglich als Nebeneffekt über die Überhangmandate, einem recht kruden Behelf, der nur existiert, um eine offensichtliche Unzulänglichkeit in unserem Wahlsystem wenigsten einigermaßen wieder gerade zu biegen. In der Informatik würde man sowas einen dirty hack nennen.
 
Was die Erststimme beeinflusst, ist also nicht (oder kaum) das Kräfteverhältnis im Bundestag. Stattdessen bestimmt sie, wer im Bundestag sitzt, was sie in meinen Augen mindestens genauso wichtig macht wie die Zweitstimme.
 
Daher sollte man sich für die Erststimme mit den Kandidaten beschäftigen, und denjenigen wählen, der die eigene Meinung am besten vertritt. Und zwar völlig unabhängig von Parteiangehörigkeit. Nicht alle in einer Partei denken gleich, und jemand aus einer „Gegnerpartei“, der die eigene Meinung teilt, kann besser sein, als jemand aus dem „eigenen“ Lager, dem man eher nicht zustimmen kann.
Ein wunderbares Instrument hierzu sind vor allem abgeordnetenwatch.de, wo man seinem Abgeordneten bzw. seine Kandidaten öffentlich Fragen stellen kann, die auch genauso öffentlich beantwortet werden, sowie die Webseiten der einzelnen Kandidaten. (Leider haben noch nicht alle Politiker den Wert dieser Instrumente begriffen.) Mir ist allerdings durchaus bewusst, dass nicht jeder die Muße haben wird, sich all diese Informationen selber zusammen zu tragen. Und nicht nur mir ist das bewusst, sondern auch abgeordnetenwatch.de, weswegen diese den Kandidatencheck ins Leben gerufen haben. Hier werden die Kandidaten gebeten, zu bestimmten Thesen ihre Haltung anzugeben, welche man dann mit der eigenen vergleichen kann. Das Erststimmen-Gegenstück zum Wahl-o-Maten, sozusagen.
Einen großen Vorteil gegenüber dem Wahl-o-Maten sehe ich allerdings darin, dass den Kandidaten die Möglichkeit gegeben wird, zusätzlich zu ja/nein/weiß-nicht noch eine kurze Erläuterung zu ihrer Antwort abzugeben. Das ist insbesondere da sinnvoll, wo eine eindeutige Antwort nicht unbedingt leicht ist. Beispiel: ich bin der Meinung, dass die Türkei durchaus der EU beitreten kann, wenn sie das mit den Menschenrechten mal in den Griff kriegt. Bei der These „Die Türkei gehört nicht in die EU“ bin ich also nicht ganz sicher, was ich antworten soll; mit dem Wörtchen „noch“ dabei wäre es eindeutiger. Durch die Antwortbegründungen der Kandidaten kann ich aber sehen, wer das ähnlich differenziert sieht wie ich.
 
Wie auch der Wahl-o-Mat erzählt mir der Kandidatencheck wenig neues, was aber auch daran liegt, das sich von den anderen Informationsmöglichkeiten ausgiebig Gebrauch mache. Unentschlossenen mag er aber bestimmt eine Hilfe sein.
 
 
Im Übrigen lässt sich im Kandidatencheck auch sehen, welche Politiker diese Möglichkeit, für sich zu werben, ernst nehmen (und somit -und hier lehne ich mich etwas aus dem Fenster- die gesamte „Internetgeneration“), und wer sich die Mühe macht, zu den durchaus wichtiges Thesen auch differenziert Stellung zu nehmen (geschätzter Aufwand: 45 Minuten; soviel sollte für Wahlkampf übrig sein) oder einfach nur die Antworten durchklickt.
Von den Bonner Kandidaten hat lediglich der werte Herr Westerwelle nicht die Zeit oder das Interesse dafür finden können, der Kandidat der Linken bleibt stumm und der der CDU wortkarg.
 
Und den Antworten des BüSo-Kandidaten kann man als humoristische Komponente den Irrsinn („Wind- und Sonnenenergie sind Energiequellen des 15. Jahrhunderts“) und das Sektierertum („Studieren Sie Lyndon LaRouche, und sie werden dies verstehen“) seiner Partei entnehmen.