29 Nov 2010 12:32
Ich finde die aktuelle Veröffentlichung von Wikileaks („cablegate„) nicht richtig, fast sogar schadhaft.
Bisher hatte ich von Wikileaks immer einen positiven Eindruck. Den Eindruck, dass sie nur dann Dokumente veröffentlichen, wenn deren Geheimhaltung einen Skandal oder ein großes Unrecht versteckt, wie zum Beispiel das Video vom Hubschrauberangriff im Irak oder die Sperrlisten für die geplante oder durchgeführte Netzzensur, die neben den propagierten (Kinder)porno-Seiten auch Seiten von Filesharern, politischen Gegnern und unliebsamen Blogs enthielten.
Die jetzt in fünf großen Medien (Spiegel, Guardian, New York Times, Le Monde, El Pais) veröffentlichten Botschaftsdepeschen hingegen sind nichts dergleichen. Es sind lediglich persönliche Einschätzungen der Botschaften ihrer jeweiligen Gastgeberländer. Es ist nichts skandalöses oder gar menschenrechtsbedrohendes dabei – im Grunde weiß jetzt nur die Welt, was die USA über sie denken und was sie ihr nicht ins Gesicht gesagt hätten.
Und an den Sachen, die in den Dokumenten stehen, finde ich auch nichts verwerfliches. Im Gegenteil – für die Arbeit eines Diplomaten ist es unabdingbar, dass man mit den eigenen Leuten offen und ehrlich reden kann, in aller Vertraulichkeit. Und ganz ehrlich: überraschend ist nichts von den Aussagen. Überhaupt nichts. Dass Westerwelle nicht der geborene Außenpolitiker ist, dass Angela Merkel nicht wirklich risikofreudig ist, dass unliebsame und grenzkompetente Politiker gerne mal in die EU abgeschoben werden, dass Erdogan die Türkei langsam aber sicher in den Islamismus führt, dass es um die Demokratie in Russland nicht so rosig bestellt ist, dass das iranische Atomprogramm ein Risiko ist, das sind alles Dinge, die mehr oder weniger allgemein bekannt sind. Ich würde sogar soweit gehen, die Analysekompetenz der Diplomaten in Frage zu stellen, wenn sie zu anderen Ergebnissen kommen würden.
Diese Dokumente sind zwar ganz interessant, haben für die Allgemeinheit aber keinerlei Mehrwert.
Sie sind aber peinlich für die USA und potentiell schädlich für die Arbeit ihrer Diplomaten. Denn es ist ein Unterschied, zu vermuten (oder auch nicht), dass der Gegenüber einen für inkompetent hält, oder es zu wissen.
Ich habe den Eindruck, dass diese Veröffentlichung lediglich dazu dient, den USA an den Karren zu fahren. Ein Racheakt, vielleicht.
Und das ist nicht das, was eine Organisation wie Wikileaks tun sollte. Nicht, wenn sie mehr als nur „Verräter“ sein wollen.
November 29th, 2010 at 12:43
Full ACK!
Das wir mal sowas von einer Meinung sind 😀
Beste Grüße,
Telly
November 29th, 2010 at 13:45
Eine Frage,
wo ist hier die Selbstbeschädigung von Wikileaks? Nach der letzten Veröffentlichung wird Herr Assange wird seither wegen Sexualverbrechens gesucht. Das ist die Liga gegen die Wikileaks kämpft. Ausserdem finde ich die isrealische-muslimische Allianz auch recht reizvoll. Wussten Sie das auch schon vorher. Das könnte doch als das Zeichen für die Palänstinenser sein, oder sehe ich hier etwas falsch?
November 29th, 2010 at 13:53
Not full ACK, da auch solche Dinge veröffentlicht wurden:
– „Geschockt wurde in arabischen Ländern auf die von der britischen Tageszeitung The Guardian entdeckte Depesche reagiert, nach der der saudische König Abdullah den ihn besuchenden Diplomaten empfahl, die Gefangenen in Guantánamo Bay mit RFID-Chips zu taggen.“
– „In Israel sorgte ein Diplomatenbericht über ein russisches Angebot für Aufregung: Demnach wollte Russland Kampfdrohnentechnik im Werte von 1 Milliarde US-Dollar in Israel bestellen und im Gegenzug zusagen, keine Langstreckenraketen an den Iran zu liefern.“
Quelle: http://www.heise.de/newsticker/meldung/Wikileaks-enthuellt-die-kritische-Sicht-der-USA-1143619.html
November 29th, 2010 at 15:22
Ich sehe die Sache nicht so. Die bisherigen Veröffentlichungen sind nicht besonders brisant, sondern Medienwirksam, aber von 200k Dokumenten ist erst ein Bruchteil gesichtet.
Wie wäre es zB mit der Info, dass der afghanische Außenminister 54mio Dollar nach Kuwait bringt und die Ami’s zu tun haben, dass er dieses Geld ohne Aufsehen und Angebe von Gründen einführen und deponieren darf. Ich finde das bezeichnend und erhellend. Wenn man das Netz erstmal richtig aufspand werden Informationen zu tage kommen, die durchaus Bedeutung haben. Das Merkel Teflon heißt interessiert mich nicht, aber da kommen Dinge, die heiß sind, wir dürfen nur nicht abwinken.
Und ja, ich fände es auch schön, wenn Wikileaks Depeschen von Deutschen, Chinesischen usw veröffentlicht, das wäre wahrer Globale Informationsfreiheit, lese ich auch gern alles.
November 29th, 2010 at 16:19
@Robert:
Dass Julian Assange weiterhin wegen Sexualverbrechen angeklagt/gesucht wird, kann kein Grund sein, all diese Dokumente zu veröffentlichen. Im Gegenteil, diesen Zusammenhang zu setzen lässt erst Recht einen Geschmack von Rache oder auch Säbelrasseln aufkommen, nicht den von Richtigkeit.
@All:
Point taken.
Die genannten Punkte sind durchaus wert, veröffentlicht zu werden.
Mein Problem liegt in der Tatsache, dass diese auch darunter sind. Ja, es sind Tatsachen, die im Licht der Öffentlichkeit gut aufgehoben sind, aber der Rest wird als (und ich möchte dieses Wort nicht provokativ benutzen) Kollateralschaden hingenommen.
Trivialitäten zu veröffentlichen schadet nur.
November 30th, 2010 at 11:00
Ich denke, hier wird übersehen, was Wikileaks ganz offen sagt: Die Kapazitäten zum Filtern des eingehenden Materials sind nicht da. Sie reichen kaum, um es zur Veröffentlichung aufzubereiten.
Die Konsequenz ist, dass man alles oder nichts veröffentlichen kann. Entsprechend ist wäre Frage, die man sich hier stellen muss:
Will man lieber, dass gar nichts an die Öffentlichkeit gerät, um Kollateralschäden zu vermeiden – oder nimmt man diese in Kauf, der großen und kleinen Probleme wegen, die sichtbar werden?
Ich bin mir da nicht sicher. Ich habe aber eine große Sympathie für Transparenz – mir wäre nur lieber, man müsste sie nicht erzwingen. Als Konsequenz muss man dann auch fragen, ob Kollateralschäden nur entstehen, weil bereits im Vorfeld falsch gehandelt wurde. Schwierig.
November 30th, 2010 at 11:32
Schwierig, tatsächlich.
Ich bin gestern noch auf einen sehr interessanten Artikel zu dem Thema von einem britischen Ex-Botschafter gestoßen: http://www.craigmurray.org.uk/archives/2010/11/raise_a_glass_t.html
Er hat ein paar sehr interessante Argumente, die sich teilweise denen hier anschließen.
Ich möchte auch noch mal Tomsen zustimmen bzw. ergänzen, dass ich es schön fände, wenn denn schon Depeschen veröffentlicht werden, wir auch noch welche von Deutschland, Frankreich, China, Russland etc. sehen könnten.
(Setzt natürlich das Vorhandensein voraus)
Irgendwie bewirkt diese US-Zentrierung der Veröffentlichungen einen schalen Geschmack bei mir. Haben die Amerikaner ein so löchriges System? Gibt es da einfach wesentlich mehr Whistleblower? Oder sitzt Wikileaks auf wesentlich mehr Material, auch aus anderen Ländern, und Veröffentlicht nur selektiv das der Amerikaner?
Dezember 1st, 2010 at 10:37
Allein für ein Gleichgewicht wären Veröffentlichungen aus vielen Ländern jetzt natürlich schön.
Was die USA angeht: Die stehen halt eigentlich immer sehr im Fokus, aufgrund Größe, Macht und „Engagements“. Größe ist hier vermutlich wesentlich: Je größer das Nachrichtensystem, je mehr Beteiligte, desto mehr mehr potentielle Sicherheitslücken.
Was zurückgestelltes Material angeht, müsste man sich wohl mal mit diesem Domscheidt-Berg auseinandersetzen. Ich meinte, der hätte dazu was gesagt.